Wie manifestieren sich die Kälte und Gleichgültigkeit, von der Adorno spricht, in der Episode von dem Mercedesfahrer (S. 144 ff.) und in dem Foto von der Erschießung der Juden?
Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz
[…] Wohl sind ein paar Worte über Kälte überhaupt erlaubt. Wäre sie nicht ein Grundzug der Anthropologie, also der Beschaffenheit der Menschen, wie sie in unserer Gesellschaft tatsächlich sind; wären also nicht zutiefst gleichgültig gegen das, was mit allen anderen geschieht, außer den paar, mit denen sie eng und womöglich durch handgreifliche Interessen verbunden sind, so wäre Auschwitz nicht möglich gewesen, die Menschen hätten es dann nicht hingenommen. […]
Erziehung zur Mündigkeit.
Hrsg. v. Gerd Kadelbach. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S.101
Adorno spricht in diesem Text von Kälte und Gleichgültigkeit. Er sagt, dass diese zur Beschaffenheit des Menschen dazugehören und dass es den Menschen egal ist, was mit anderen geschieht, solange es nicht die eigene Familie oder Freunde betrifft.
Der Mercedesfahrer (S.144 ff.)
Als Michael per Anhalter zum Struthof (Konzentrationslager im Elsass) fährt, ist er auch Mitfahrer in einem Mercedes, dessen Fahrer ihm diese Kälte und Gleichgültigkeit deutlich macht. Er fährt seinen Wagen mit weißen Handschuhen (vgl. S. 144). Als er erfährt, wo genau Michael hinmöchte, schweigt er zunächst, beginnt etwas später aber doch zu reden.
Er versucht Michael eine Antwort zu geben, wie Menschen so furchtbare Sachen machen können, welche auch ihn selbst als kalt dastehen lässt. Er nennt ein Beispiel:
„Aber auch der Henker haßt den, den er hinrichtet, nicht und richtet ihn doch hin“ (S.146)
Warum tut der Henker das? Wurde es ihm befohlen?
„Der Henker befolgt keine Befehle. Er tut seine Arbeit, haßt die nicht, die er hinrichtet, rächt sich nicht an ihnen, bringt sie nicht um, weil sie ihm im Weg stehen oder ihn bedrohen oder angreifen. Sie sind ihm völlig gleichgültig.“ (S.146)
Der Henker tötet also nicht weil es ihm befohlen wird, und auch nicht, weil er den, den er hinrichtet, hasst. Er tut es weil es sein Job ist. Diese Gleichgültigkeit wird in dem folgenden Satz noch klarer:
„Sie sind ihm so gleichgültig, dass er sie ebensogut töten wie nicht töten kann.“ (S. 146)
Dieses Beispiel vergleicht der Mercedesfahrer jetzt mit einer Fotografie, die er angeblich gesehen hat, auf der ein Offizier zu sehen ist, der zusieht, wie Juden erschossen werden.
„Vielleicht geht es ihm nicht schnell genug voran. Er hat aber auch etwas zufriedenes […] im Gesicht, vielleicht, weil immerhin das Tagwerk geschieht und bald Feierabend ist. Er haßt die Juden nicht.“ (S.147)
„Er tut nur seine Arbeit“ könnte man noch hinzufügen.
Dieses Beispiel unterstützt Adornos Text. Sowohl dem Henker als auch dem Offizier ist es egal, was mit den Juden passiert. Es ist ihnen gleichgültig, weil es nicht die Freunde und die Familie betrifft. Es ist ihnen gleichgültig, weil sie sie nicht kennen, aber sie hassen sie nicht.
Am Ende schmeißt der Fahrer Michael aus dem Wagen, weil dieser ihn fragt, ob er der Offizier auf diesem Foto gewesen sei.
Das Foto – Erschießung von Juden durch deutsche Militärangehörige
Auf dem Foto hockt ein Mann mit einer Tasche in der Hand vor einem Graben, indem Leichen liegen. Hinter ihm steht ein Soldat, er hat eine Waffe auf ihn gerichtet. Im Hintergrund steht eine Reihe weiterer Soldaten.
Auch hier kommt diese Gleichgültigkeit und Kälte wieder auf.
Die Gleichgültigkeit zeigt sich in dem Soldaten, der den Juden (das Foto zeigt eine Massenerschießung, es folgen also noch weitere) erschießt, als würde er Briefmarken stempeln. Die Kälte dagegen zeigt sich in den Soldaten im Hintergrund, es sind Angehörige der Waffen-SS und Mitglieder des Reichsarbeitsdienstes, die dabei zusehen. Sie zeigen weder Mitleid, noch sehen sie aus als hätten sie Spaß beim Zusehen. Sie sehen völlig gleichgültig aus.